Der Venuswagen-Prozess

Titelbild

Einladungskarte Wolfgang Gurlitt zu einem Abendessen anlässlich des Venuswagen-Prozesses.
Quelle: Privatarchiv. © Alexandra Cedrino


Herr und Frau Wolfgang Gurlitt laden im Auftrag der von der Staatsanwaltschaft und ihren Häschern verfolgten Frau Venus zu einem kleinen Abendessen am Donnerstag, den 10. November, 8 ½ Uhr, Potsdamer Straße 113, Villa II, ein.

U.A.w.g.

Nur vier Tage, nachdem „die Trümmer des goldenen, luftigen und lustigen 'Venuswagens' […] die Turmstraße bedeckten“ (1) und Wolfgang zu einer Geldstrafe von 1.000 Reichsmark verurteilt worden war, lud er Freunde und Künstler zu einem gemeinsamen Abendessen ein. Vielleicht lachte er über die Prüderie der Staatsanwaltschaft und ihrer „Häscher“. Denn obwohl ihn die Strafe schmerzte - Geld war bei ihm immer knapp - bot ihm dieser Prozess die Möglichkeit, sich als fortschrittlicher und liberaler Kunstfreund zu profilieren.

"Der Venuswagen", eine Buchreihe des renommierten Verlags Fritz Gurlitt in Berlin, war eine gewagte Unternehmung, die Wolfgang zwischen 1919 und 1920 initiiert hatte. Die sorgfältig kuratierte Sammlung erotischer Privatdrucke, herausgegeben von Alfred Richard Meyer, umfasste insgesamt neun Bände und zeichnete sich durch eine exquisite Ausstattung mit Originalgrafiken aus. Wolfgang war maßgeblich an der Entwicklung und Veröffentlichung dieser Werke beteiligt, was sein Streben nach künstlerischer Freiheit, kultureller Vielfalt und sein Interesse an erotischer Kunst unterstreicht.

Sein Verlagsprogramm, das er zusammen mit seinem Herstellungsleiter Paul Eipper (2) von 1920 bis 1924 konzipierte und betreute, war von Anfang an äußerst anspruchsvoll. Es umfasste eine breite Palette von Kunstbüchern, Einzelgrafiken, Mappenwerken, Jahrbüchern, Bildbänden und Malerbüchern in unterschiedlichen Formaten und Ausstattungen. Diese Werke zeichneten sich durch kostbare Einbände und handsignierte Originalgrafiken auf hochwertigem Japan- oder Büttenpapier aus. Neben diesen luxuriösen Ausgaben wurden auch preisgünstigere Versionen mit nicht signierten Drucken und bescheidenerer Ausstattung herausgegeben.

Doch sein Engagement stieß nicht nur auf Zustimmung - schon gar nicht, wenn es um die bildlichen Darstellungen ging, die in einigen seiner Bücher zu finden waren. Am 6. November 1920 empörte sich Paul Eipper: „Künstlerische Freiheit im Sozialistenstaat! Die Staatsanwaltschaft II, Abteilung für Unzüchtigkeit in Wort und Bild, hat bei uns beschlagnahmt. An erster Stelle Corinth, 'Der Venuswagen' (nach Schillers Gedicht) und 'Die Königin von Gonolkonde' (nach Bürger).“ (3) Selbst in der eigenen Familie stieß Wolfgang mit seinen Veröffentlichungen auf Unverständnis. Noch vor der Beschlagnahmung im November schimpfte Vetter Hildebrand in einem Brief vom 27. August 1920: „Zumal sein Verlag fast nur Schweinereien herausgibt, wenigstens mir dadurch bekannt ist. Sieh Dir mal seinen Almanach an, und es kotzt Dich an.“ (4)

Mit dieser Meinung stand Wolfgangs Cousin nicht allein. Auch die Justiz sah es so. Einige Bücher des Gurlitt-Verlages stellten - so das Reichsgericht - eine Gefahr für „das Scham- und Sittlichkeitsgefühl des normalen Menschen in geschlechtlicher Beziehung“ dar.

Und so kam es 1921 zum Prozess, der - um das empfindsame, völkische Sittlichkeitsempfinden nicht zu verstören - unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand. In den langen und kalten Gängen des Kriminalgerichts in der Turmstraße drückte sich die „ausgeschlossene Öffentlichkeit“ – bestehend aus Wolfgang und seiner Geschäftspartnerin Lilly Agoston (5) – mit blaugefrorenen Lippen vor der Saaltür herum, während im Saal selber um die Freiheit der Kunst gerungen wurde, die trotz aller Bemühungen wieder einmal eine Schlappe einstecken musste. Nach der Urteilsverkündung erschien in der Zeitschrift „Der Querschnitt“ ein entrüsteter Artikel: „Das Urteil in dem Prozess gegen Gurlitts 'Venuswagen' wird in weiten Kreisen mit Verwunderung aufgenommen werden“, um dann mit einem ungläubigen Augenreiben fortzufahren. „Corinth als unzüchtig (!) beschlagnahmt. Janthur, Jaeckel, Schoff, Christophe, Geiger, Zille als unzüchtig beschlagnahmt! Ist es so weit gekommen, dass eine Anzahl unserer besten Künstler, mit dem Altmeister Corinth an der Spitze, auf die Stufe der Pornographen herabsank?“, fragte der Autor Bernhard Kellermann verwundert. „Es handelte sich bei der Publikation zum größten Teil um kulturhistorische Kuriosa erotischer Natur“, beschrieb er das beanstandete Buch, „die von Meisterhand sehr dezent, oft recht zahm illustriert worden waren. Die Drucke waren in etwa 700 Exemplaren an Sammler und Liebhaber abgegeben worden, also keineswegs geeignet, die Allgemeinheit zu erreichen und die Volkssittlichkeit zu gefährden“, erklärte der Autor den Lesern, um dann einen kritischen Blick auf die von der Staatsanwaltschaft einberufene Koryphäe, den ultrakonservativen Professor Dr. Karl Brunner, der sich im Jahr zuvor mit dem Prozess gegen Schnitzlers „Reigen“ einen Ruf wie Donnerhall erworben hatte, zu werfen.

„Vergebens versuchten die Sachverständigen das Gutachten des allmächtigen Herrn Professor Brunner zu erschüttern, der selbst die delikateste Darstellung eines Damensitzteils als unzüchtig empfindet!“, ätzte Kellermann. „Vergebens bemühte sich der Verteidiger, in einer meisterhaften, überwältigenden Darstellung unter Anführung von Urteilen des Reichsgerichts darzutun, dass längst schon rechtsgültige Entscheidungen in diesen Fragen ergingen“, schilderte er die tapfere, am Ende jedoch erfolglose Beweisführung der Verteidigung.

Der Ausgang des Prozesses, der Wolfgang zu einer Geldstrafe von 1000 Mark verurteilte, hinterließ einen bitteren Nachgeschmack. Bereits 1922 stand der nächste Prozess an, diesmal mit der eigenen Familie als Kläger. Doch das ist eine andere Geschichte.


(1) Kellermann, Bernhard. In: Der Querschnitt, (1921), S. 229 – 231

(2) Paul Eipper (* 10. Juli 1891 in Stuttgart; † 22. Juli 1964 in Lochham) war ein deutscher Schriftsteller und enger Mitarbeiter von Wolfgang Gurlitt. Bekannt wurde er durch seine erzählenden Tierbücher. Seine Werke zeichnen sich durch Einfühlungsvermögen in die Seele der Tiere und Naturverbundenheit aus. Zu seinen bekanntesten Büchern gehören "Tiere sehen dich an" und "Die gelbe Dogge Senta"

(3) Eipper, Paul; Ateliergespräche mit Liebermann und Corinth. Band 438. 3. Auflage. München: Serie Piper, 1985, S. 79

(4) Archiv Cornelius Gurlitt, TU Dresden, Brief vom 27.08.1920 von Hildebrand an Willibald Gurlitt

(5) Lilly Agoston-Christiansen (1894 – 1951) war eine ungarische Jüdin und Geschäftspartnerin von Wolfgang Gurlitt. Sie war an seinem Verlag und seiner Kunsthandlung beteiligt. Um sie vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten zu schützen, wurde sie pro forma mit einem jungen Dänen namens Christiansen verheiratet, wodurch sie den Anschein einer nicht-jüdischen Identität erhielt.

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